Warum eine Biografie über Walter Linse?
Eigentlich war Walter Linse keine herausragende Persönlichkeit. Er strebte nicht an die Öffentlichkeit wie Schauspieler oder Politiker und vollbrachte keine Heldentaten wie Widerstandskämpfer oder Weltumsegler. Er war zeit seines Lebens ein eher unauffälliger Mensch, der sich nicht exponierte, und wenn doch, dann blieb seine Bekanntheit beschränkt auf sein persönliches Umfeld. So hat er im Verlauf seines Lebens zwar verschiedene Ämter übernommen, aber deren Wirkungskreis blieb sehr beschränkt.
Die Notwendigkeit, sich mit Walter Linse zu beschäftigen und eine Biografie über ihn zu schreiben, entstand erst nach seiner Entführung. Welchen Bekanntheitsgrad Linse zu diesem Zeitpunkt erreicht hatte, lässt sich schwer sagen. Sicher ist, dass das Verbrechen ihn ungemein steigerte. Plötzlich war er – zumindest im Westen – eine Person größten öffentlichen Interesses. Zuvor weitgehend unbekannt, wuchs Linse recht bald zu einer Ikone des Widerstandes gegen das SED-Regime.
Diese Entwicklung lässt sich nicht leicht erklären. Denn Linse war nicht das erste Opfer einer Verschleppung durch das MfS und sollte nicht das letzte bleiben. Vielleicht weil die Tat so spektakulär war, in aller Öffentlichkeit stattfand, erhielt sie so viel Aufmerksamkeit. Feststeht, dass im Verlauf kurzer Zeit Linse zum Inbegriff aller MfS-Entführungsopfer wurde. Kurz nach dem Verbrechen wurde das auch heute noch bekannte Porträts Linses veröffentlicht, das ihn als recht jungen Mann zeigt, der er 1952 schon nicht mehr war. Und zum zehnten Jahrestag der Entführung konnte der Tagesspiegel schreiben: »Für all diese Unglücklichen [also die Opfer von Menschenraub – B.K.] sei noch einmal ein Name genannt: Walter Linse.«
Nicht durch seine Taten ist Linse also bekanntgeworden, sondern durch ein Verbrechen, das an ihm verübt wurde. Seitdem wurde er geschätzt von den Gegnern der SED-Diktatur. Als ich 2007 in meiner Biografie enthüllte, dass Linse an der »Arisierung« der Chemnitzer Wirtschaft beteiligt war, änderte sich rasch das Bild. Jetzt wurde dieser Aspekt seiner Biografie betont und alles andere für bedeutungslos erklärt oder ignoriert. Sein Schicksal wurde schon wieder für politische Zwecke in Anspruch genommen, dieses Mal, wie die Diskussion über die Benennung eines Preises nach Linse gezeigt hat, im Kampf um die angemessene Erinnerung an die beiden Diktaturen in Deutschland.
Zu dieser Auseinandersetzung habe ich nie einen Beitrag leisten wollen – und will es jetzt noch viel weniger. Eine Biografie Linses zu schreiben, heißt, Grundlagenarbeit zu leisten und den Streitenden Material zur Beurteilung von Linses Taten an die Hand zu geben. Darüber hinaus erfüllt eine Biografie aber auch eine gewisse Schutzfunktion, indem sie nämlich versucht, das Leben Linses zu beschreiben und seine Entscheidungen im Kontext seiner Lebenswelt zu verstehen. Sie zu verdammen ist ebenso unangebracht wie sie zu rechtfertigen.
Die Neue Wache in Berlin ist die nationale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist nach kontroverser Diskussion »den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« gewidmet. Foto: Lukas Koster / flickr.com / CC BY-SA 2.0