Das geht so in die Seele rein
13/25 Was das aus Kreativtherapien bekannte Verbildlichen und Verklanglichen von Gefühlen am Ende des Lebens leisten kann, davon erzählt meine Klangvisite im Hospiz Advena von letztem Freitag.
Zum neunten Mal war ich im Rahmen meines crowdfundingfinanzierten Projekts auf Klangvisite mit Harfe im Hospiz Advena in Erbenheim.
Herr Stiller, den ich ein paar Mal während meiner Klangvisiten im Hospiz begleitet hatte, ganz ohne Harfe, wurde am Donnerstag beigesetzt. Er hat seine letzte Ruhe im Wald gefunden, dort, wo er schon früher viel unterwegs war. Er kommt heim in seine Natur. Am Abend zündete ich bei mir zuhause eine Kerze für ihn an.
Ich freue mich, im Foyer steht schon der Pianostuhl für mich bereit, so dass mir ein Gang damit abgenommen ist. Gerade habe ich meine Harfe im Foyer im Erdgeschoss aufgebaut, als eine Besucherin vorbeikommt und für ein Gespräch bei mir stehenbleibt. Es ist die Mutter der krebskranken Tochter in meinem Alter, die hier liegt. Mit ihrem Mann war ich letzte Woche bereits ins Gespräch gekommen. Er hatte lange bei mir gesessen und die Klänge der Harfe genossen. Wir reden über den Krebs ihrer Tochter. Der Arzt, der die Diagnose damals stellte, sagte zuallererst: fragen sie nicht danach, warum es sie trifft, diese Frage dürfen sie erst garnicht stellen. Es gibt auch kein Darum, sage ich. Es gibt so viel Leid auf der Welt, dass ich mir in Situationen, die mich treffen, sage, warum nicht ich. Und dennoch liegt in diesem Wissen nicht der mindeste Trost. Nicht ein kleines bisschen nimmt dieser Gedanke vom eigenen Schmerz. Ihrer Tochter habe sie versprochen, damals, vor drei Jahren, ich bin immer für dich da, ich lasse dich nicht allein. Ihre Worte rühren mich an. Ich biete an, wenn sie es wünscht, mit Harfe aufs Zimmer zu kommen. Sie sagt mir, sie haben die Tür zum Flur offen, die Harfenklänge hört man sehr gut, bis hinten ins Zimmer. Sie freue sich immer wenn ich da bin. Die Harfe, das geht so in die Seele rein.
Nach einem weiteren Gespräch mit der Seelsorgerin beginne ich zu spielen. Zur Zeit sind es neben meinen eigenen Kompositionen immer wieder die bretonischen Melodien, die es mir wegen ihrer beruhigenden und berührenden Wirkung, die sie auf die Atmosphäre im Hospiz entfalten, besonders angetan haben.
Bald schon wird der alte Herr in seinem Rollstuhl zu mir herangefahren, der schon die letzte Male während meines Spiels ins Foyer gebracht wurde. Ich kenne sein Krankheitsbild nicht. Aus meinen Erfahrungen mit Menschen mit Demenz vermute ich, dass er unter anderem auch eine dementielle Erkrankung hat. Dennoch gibt er zwischendurch, nuschelnd zwar, aber dennoch sehr klar formulierte Sätze von sich. Ich lache und begrüße ihn, sage ihm, dass ich nur für ihn spiele. Wunderbar, freut er sich. Ich spiele. Manchmal nuschelt er etwas vor sich hin. Die Seelsorgerin, die manchmal bei uns steht, erkennt die Worte „lustig und froh“. Die Worte kann ich keinem mir bekannten Lied zuordnen. Beim Googeln über mein Smartphone stoße ich auf das Volkslied „Die Tiroler sind lustig, die Tiroler sind froh“ und machen die Probe aufs Exempel. Über youtube lasse ich das Lied auf meinem JBL-Lautsprecher spielen und bingo – Treffer! Herr Barsch (Name geändert) fängt mit den Händen an zu wippen und singt mit. Die Seelsorgerin, Herr Barsch und ich singen jetzt gemeinsam das Lied. Vor allem beim Refrain ist Herr Barsch voll dabei. Rudirudiralla, rallala, rallala...
Heute ist der erste Freitag im Monat. Im Hintergrund decken Ehrenamtliche im Wintergarten den Kaffeetisch für die Gäste des einmal im Monat stattfindenden Trauercafés. Ein Geburtstagskind soll heute dabei sein. Noch nie habe ich mit Harfe Geburtstagslieder begleitet, sondern mit Ukulele, finde aber Texte und Akkorde in meinen Noten, die ich dabei habe, und verspreche, nachher ein Ständchen anzuleiten. Zu Beginn der kleinen Veranstaltung spiele ich, während die Gäste eintreffen, ein paar freie Melodien zum Einklang. Als nach einer kurzen Eröffnungsrede das Geburtstagskind angekündigt wird, leite ich „Viel Glück und viel Segen“ und „Wie schön dass du geboren bist“ an. Alle singen mit und applaudieren, eine freudige Stimmung ist im Raum. Die Harfenklänge empfinden alle als etwas Besonderes. Eine hochbetagte Dame ist unter den Gästen, die in den Zwanziger Jahren geboren wurde und demnächst ihren 98. Geburtstag feiert. Für sie spiele ich „Lili Marleen“, und wieder singen einige mit, die den Text dazu kennen. Nach wunderbaren Gesprächen am Tisch und leckerem Kuchen wird es Zeit für mich, meine Klangvisite oben auf ersten Etage fortzusetzen.
Helfende Hände bringen mir Pianostuhl, Notenständer und meinen schweren Rucksack nach oben, so dass ich nur einen einmaligen Gang habe, um meine Harfe nach oben zu bringen. Im Flur beginne ich mein Spiel. Nachdem ich mich mit den Klängen sanft bei den Bewohnern auf den Zimmern der ersten Etage angekündigt habe, klopfe ich leise am Zimmer von Herrn Franz (Name geändert) und frage ihn, ob er die Musik bei offenen Türen hören möchte. Wie meistens ist er darüber sehr froh und so spiele ich noch eine ganze Weile für alle, bis ich zu ihm für ein persönliches Gespräch aufs Zimmer gehe. Heute geht es ihm garnicht gut, die Knochen und Gelenke tun im weh. Ich habe ihm etwas mitgebracht. Ich hatte versprochen, die Blogeinträge mit den ihn betreffenden Passagen auszudrucken und ihm zum Lesen mitzubringen. Erfreut und gespannt blättert er in den Ausdrucken, bleibt an der einen und der anderen Passage hängen. Er weiß, dass er die Originalfassung in den Händen hält, die ich bei mir auf dem Rechner habe und für das Buch verwenden werde. In den Blogeinträgen habe ich eine kleine Passage über ihn rausgenommen. Diese im Buch zu veröffentlichen, damit ist er einverstanden. Das fühlt sich gut an, in einem Buch zu sein, sagt er. Er wäre schon mal in einem Buch gewesen, mit einem Bild. Und stellen sie sich vor, sage ich, wir sitzen gerade in dem Buch und unterhalten uns miteinander. Wir müssen beide bei der Vorstellung lachen. Er nimmt sich vor, den ausgedruckten Blog in den nächsten Tage in Ruhe zu lesen und freut sich darauf.
Ich habe noch etwas für Sie mitgebracht, sage ich. Ich packe ein Gaze-Tuch aus und ein hölzernes Herz, das in der Hand liegt wie ein Handschmeichler. Sie machen sich doch solche Sorgen um Ihre Frau, sage ich, was aus ihr wird nach Ihrem Tod. Aus unseren vorherigen Gesprächen weiß ich, wie christlich Herr Franz ist und hatte auf diese Weise Zugang zu ihm gefunden. Als Margot Käßmann 2010 von all ihren kirchlichen Ämtern zurücktrat, brachte sie ihre Glaubensüberzeugung in folgendem Satz zum Ausdruck „Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Das ist das Bild, auf das ich hinauswill. Erinnern Sie sich daran, frage ich ihn, als ich Ihnen in einem unserer ersten Gespräche davon erzählte, dass ich mich bei einem Krankenhausaufenthalt nach einem Unfall vor sieben Jahren vor lauter Schmerzen nicht mehr rühren konnte. Und dennoch fühlte ich mich tagelang derart geborgen, als wäre ich nicht von meinem Fahrrad auf die Straße, sondern direkt in Gottes Hand gefallen. Als wir dann gemeinsam dem Lied lauschten, das Sie sich für Ihre Beerdigung ausgesucht haben, das Irische Segenslied, mit den Zeilen „und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand“, da meinten Sie, das ist das Lied zu Ihrem Erlebnis im Krankenhaus. Sie waren fünfzig Jahre für Ihre Frau da und haben für sie gesorgt und sie beschützt. Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie geben Ihre Frau in Gottes Hand. Er wird sie nach Ihrem Tod in seinen Händen halten. Ich merke, wie Herr Franz inne hält und den Gedanken auf sich wirken lässt. Er mag den Gedanken, er tut ihm gut. Ich gebe ihm das Herz aus Holz in seine Hände und lege ihm das Tuch auf den Schoß. Denken Sie jetzt daran, wie Sie das Herz Ihrer Frau in den Händen halten, es beschützen, und es in Gottes Hand geben. Er spielt mit dem Herzen, nimmt es in beide Hände und umhüllt es dann behutsam und beschützerisch. Darf ich Sie so fotografieren. Nur Ihre Hände mit dem Herzen drin. Für den Blog. Und das Buch. Und in erster Linie für Ihre Frau. Dass Sie nach Ihrem Tod dieses Bild von Ihnen hat. Herr Franz sagt, dass er den Gedanken gut findet, dass ihm die Idee gefällt. Ich zeige ihm das Bild, das ich eben mit meinem Smartphone gemacht habe. Er mag es. Als ich am Tag darauf das Foto für Herrn Franz ausdrucke, fällt mir das wunderschöne Lied von Edith Stein dazu ein, das ich auf einem meiner Fortbildungswochenenden bei den Singenden Krankenhäusern kennengelernt habe:
Ohne Vorbehalt und ohne Sorgen
Leg ich meinen Tag in Deine Hand.
Sei mein Heute, sei mein Morgen,
Sei mein Gestern, das ich überwand.
Frag mich nicht nach meinen Sehnsuchtswegen,
Bin aus Deinem Mosaik ein Stein.
Wirst mich an die rechte Stelle legen,
In Deinen Händen bettest Du mich ein.
Das Lied dazu werde ich ihm nächste Woche spielen. Ich bin froh, mit dem Bild einen tröstlichen Anker für die Sorge von Herrn Franz gefunden zu haben, die ihn am meisten umtreibt.
Eine junge Pflegerin kommt aufs Zimmer und fragt, ob ich nochmal draußen spielen könne, eine Dame im letzten Zimmer sei eben aufgewacht und sei fürchterlich unruhig. Ich verabschiede mich von Herrn Franz und gehe nach draußen. Obwohl es schon spät ist – das Abendessen für die Bewohner ist längst vorbei – baue ich meine Harfe vor der offenen Tür zum letzten Zimmer auf und spiele besonders behutsam die bretonischen Melodien. Ruhige und gleichmäßige Rhythmen wie ein Herzschlag. Liebliche Melodien, die in die Seele gehen. Eine ganze Weile noch spiele ich drei solcher Stücke wie Klangmeditationen mit der Intention, zu beruhigen und zu umhüllen. Als die Pflegerin vorbeikommt, bitte ich sie, nach der Dame zu schauen, wie ihr Atem geht und ob sie vielleicht eine Stirnfalte hat – Anzeichen, an denen man Anspannung und Entspannung ablesen kann. Als sie zurückkommt, strahlt sie und sagt: Sie ist ganz entspannt, sie hat aufgehört zu nesteln und sich an den Pflegearm zu klammern. Sie habe noch nie so selig geschlafen.
© Astrid Marion Grünling
www.klangvisite.de