Sei über vierzig Jahre im Himmel bevor der Teufel merkt du bist tot
7/25
Dass es im Hospiz und am Krankenbett nicht nur todernst zugeht, sondern auch viel miteinander gelacht wird, das habe ich auf meiner letzten Klangvisite am Donnerstag letzte Woche wieder einmal mehr erleben dürfen.
Den Gast, dem ich das letzte Mal hoch und heilig versprechen sollte, meine Klangvisite so anzukündigen, dass auch seine Frau dabei sein kann, finde ich bereits mit Ehefrau und Sohn wartend im Foyer des Hauses vor. Hier finden normalerweise die Gedenkgottesdienste statt, und auch andere Veranstaltungen wie beispielsweise der Weihnachtsbasar. In den Raum ist ein Wintergarten integriert, grün, gemütlich und heimelig. Ich setze mich mit meiner Harfe zu der wartenden Familie hinzu und beginne zu spielen. Leichte und beruhigende eigene Improvisationen, verträumte englische und schottische Stücke. „Comptine d'un autre été“, ein Stück der wunderbaren Filmmusik von Yann Tiersen aus dem Film „Die wunderbare Welt der Amelie“, der vor mehr als 15 Jahren in den Kinos war. Die Familie geniesst gemeinsam. Um die leise Stimmung nicht aufzubrechen, bitte ich sie, am Ende der Stücke nicht zu klatschen. Der Bewohner selbst kann nicht sehr lange sitzen, es strengt ihn an, und die Familie macht sich auf den Weg nach oben auf sein Zimmer. Ich verspreche ihm, nachher nochmal bei ihm vorbeizuschauen, wenn ich auf dem Flur oben bin.
Nach einem kurzen Spiel auf dem Flur im Erdgeschoss gehe ich zu einem Herrn aufs Zimmer, der fast erblindet ist. Von der Pflege weiß ich bereits, dass er keine Harfenmusik am Krankenbett haben mag, weil es einfach nicht sein Instrument ist, und so frage ich behutsam, welche Musik er gerne hört. Steierische Volksmusik, aber dafür hört er Radio, antwortet er. Auch wenn es nichts gibt, was ich musikalisch für ihn tun kann, kommen wir miteinander ins Gespräch. Sehr rundheraus und so garnicht deprimiert erklärt er mir, dass er wohl wisse, wofür er hier ist. Er scheint nicht besonders traurig darüber zu sein, keine Tragik liegt in seinen Worten, kein Schmerz, keine Angst, nichts, was irgendwie gelöst werden will. Er erscheint mir auch nicht nüchtern abgeklärt, da scheint auch nichts mühevoll Verdrängtes, nein, es ist für ihn einfach, wie es ist. Er hat sein Leben gelebt und es ist gut. Ich fühle mich von seinen lebendigen blauen Augen, in denen der Schalk blitzt, angeschaut, und bin irritiert, weil ich weiß, dass er ja blind ist. So gut wie, meint er auf meine Nachfrage. Schatten sieht er, und aus welcher Richtung die Stimme kommt. Da kucke er hin. Darüber hinaus unterhalten wir uns angeregt über Gott und die Welt weiter, nein stopp, an Gott glaubt er nicht, und vor allem nicht an die Kirche, wir flachsen über den Tod, reden aus seinem Leben und lachen dabei recht viel miteinander. Ich verspreche ihm, nächste Woche wieder nach ihm zu schauen.
Nachdem ich im Erdgeschoss für keine weiteren Bewohner mehr etwas tun kann, schaffe ich mich mit Harfe, Klavierstuhl, Notenständer, Rucksack mit Noten und einer Wasserflasche nach oben in die erste Etage. Es ist schon immer mit viel Schlepperei verbunden. Im nächsten Leben spiele ich Sopraniniflöte. Aber die hat nun mal nicht die Resonanz und Tiefenwirkung von Harfenklängen...
Wieder spiele ich zunächst auf dem Flur, jetzt im ersten Stockwerk. Ich bemerke, wie in dem Zimmer, dessen Tür weit offensteht und vor dem ich unmittelbar spiele, Herr Franz (Name geändert) sein Buch aus der Hand legt, es sich in seinem Liegestuhl gemütlich macht und sich mit geschlossenen Augen und Brille auf der Nase verträumt zurücklehnt. Wir kennen uns schon von letzter Woche. Ich gehe zu ihm aufs Zimmer, begrüße ihn und biete ihm an, dass ich mit der Harfe auch aufs Zimmer komme. Erst verneint er, er bekomme ja genug mit, wenn ich auf dem Flur spiele, das genüge ihm. Ich frage, ob ich mich ohne Harfe ein bisschen zu ihm setzen darf und wir uns ein wenig unterhalten wollen. Das nimmt er gerne an. Auf meine Frage, ob es in seinem Leben Musik gab, die ihm viel bedeutet hat und die er gerne wieder hören würde, wird er nachdenklich. Ich habe einen Bluetooth-Lautsprecher dabei, den ich über mein iPhone bediene, so dass ich über youtube die meisten Titel recherchieren und spielen lassen kann.
Zwischen uns entspinnt sich zunächst ein anregendes und zutiefst philosophisches wie spirituelles Gespräch über Leben, Tod und Sterben. Er redet offen und angstfrei über sein bevorstehendes Sterben. Meine Frage, ob ihm bang davor sei, verneint er. Er meint, er hätte alles geregelt und wäre neugierig auf das was da auf ihn zukommt. Nur um seine Frau, die er zurücklässt, und mit der er fast fünfzig Jahre zusammengewesen sei und nächste Woche Hochzeitstag feierte, würde er sich sorgen. Er habe den Wunsch, dass sie nicht alleine bleibe und dass jemand für sie da sei. Für ihn, zutiefst gläubig und in seiner Kirchengemeinde immer sehr eingebunden, sei das Sterben wie ein Heimkommen. Das Gefühl teile ich mit ihm und so erzähle ich ihm von einem sehr persönlichen Erlebnis. Vor sieben Jahren, in einer für mich sehr herausfordernden Lebensphase, fand ich mich nach einem Fahrradunfall mit schwerer Gehirnerschütterung im Krankenhaus wieder. Ich konnte mich nicht rühren und hatte Schmerzen. Und über all die Tage im Krankenhaus, und noch darüber hinaus, hatte ich ein so intensives Gefühl der Geborgenheit, dass ich mich fühlte wie in Gottes Hand. Ich war damals so verblüfft und verwundert über diese intensive und anhaltende Wahrnehmung, die ich in keinen anderen Worten hinreichend ausdrücken kann als in diesen, dass ich sicher bin, dass ich zum Glauben gefunden hätte, wenn dieser nicht ohnehin schon dagewesen wäre. Auch ohne Kirchenanbindung.
Herr Franz erzählt, wie er bereits seine Traueranzeige geschrieben hat, seine Trauerfeier geplant hat, und auch die Musik zur Trauerfeier ausgesucht hat. Das sei so ein irisches Segenslied. Ich horche auf. Das Lied „Möge die Straße uns zusammenführen“ begleite ich hin und wieder auf der einen oder anderen Gedenkfeier. Auf youtube finde ich schnell eine schöne Fassung von einem Chor und lasse es über den JBL-Bluetooth-Lautsprecher spielen. Ich sehe, wie angerührt Herr Franz ist. Er lauscht tief bewegt. Wir sprechen über das Lied, das ja nicht nur fromme Wünsche hat, sondern auch eine recht humorvolle Strophe hat, die der Chor auf youtube ausgespart hat. Herr Franz kennt die knackige dritte Strophe. Ihr Text im Wortlaut: „Hab unterm Kopf ein weiches Kissen, habe Kleidung und das täglich Brot; sei über vierzig Jahre im Himmel, bevor der Teufel merkt du bist schon tot.“ Und ja, auch diese Strophe soll auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin gesungen werden. Ich hole draußen mein Liederbuch und singe ihm die Strophe vor, er singt mit. Wir lachen miteinander. Nach dem Refrain am Schluss „Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand“ meint er zu mir, das ist das Lied zu ihrem Erlebnis im Krankenhaus, das mit Gottes Hand.
Wir sprechen noch etwas über sein Leben. Er erzählt mir, wie er seine Frau vor knapp fünfzig Jahren kennengelernt hat, im Urlaub. Wie froh er darüber sei in ihr die Eine und Richtige gefunden zu haben. Und wie sehr ein Lied mit dieser Erinnerung verbunden ist. Nun, ich kenne es nicht. Aber youtube spuckt es aus. Die Worte eines frech-fröhlichen Schlagers aus dem Jahr1968 tönen aus meinem kleinen grünen JBL-Lautsprecher in seinem Zimmer im Hospiz Advena und ergreifen angesichts der Situation in ihrer bedeutungsvollen Eindringlichkeit Stimmung und Herz. Herr Franz schwelgt zu Tränen gerührt in seinen Erinnerungen an diese schöne und bedeutungsvolle Zeit in seinem Leben. Sie haben mir heute eine große Freude damit gemacht. Mit diesen Worten verabschiedet er sich von mir.
Da wir beide die meiste Zeit daran glauben, dass es nach dem Tod in irgendeiner Form weiter geht, haben wir vorher noch neugierig und in spielerischem Ernst miteinander ausgemacht, dass er sich von drüben irgendwie bemerkbar macht, soweit es ihm möglich sei. Ich wünsche ihm, dass er gut und leicht gehen kann, wenn es soweit ist, und dass wir uns nächste Woche wiedersehen.
Eine wirklich schöne Begegnung.
Ich statte noch einmal dem Herrn, der zu Beginn meiner Klangvisite mit seiner Familie im Foyer gesessen hat, einen Besuch mit Harfe auf seinem Zimmer ab, spiele ihm noch einmal das Stück von Yann Tiersen und ein Gute-Nacht-Lied und verabschiede mich.
Erschöpft von der Intensität der Arbeit gehe ich mit Instrument und meinen Sachen nach unten, um für den Nachhause-Weg zu packen. Da entdecke ich noch ein recht junges Paar, Angehörige, Besucher der Dame im letzten Zimmer im Erdgeschoss. Ich hatte vorher schon kurz bei der Dame vorbeigeschaut. Da sie nicht ansprechbar war, hatte ich sie in Ruhe gelassen. Jetzt biete ich den Angehörigen an, noch kurz aufs Zimmer zu kommen. Sie nehmen mein Angebot gerne an. Auf dem Zimmer sind weitere Besucher. Der Ehemann, die Tochter und der Enkel mit seiner Verlobten. Die Dame im Bett wälzt sich unruhig hin und her. Ich spiele leise und sanft die Saiten der Harfe. Den Angehörigen tun die Harfenklänge spürbar gut. Von so vielen Rückmeldungen weiß ich, dass die Harfe das Schwere tragen hilft und ich spüre, dass dies meine Aufgabe ist. Ich stelle es gerne zur Verfügung. Auch diese Angehörigen bedanken sich für die ihnen so wohltuende Harfenmusik. Die Angehörigen sitzen abwechselnd am Krankenbett, halten die Hand der Ehefrau, Mutter und Oma, weinen, trösten sich gegenseitig und reden leise miteinander. Ich greife nicht in den Prozess ein, rede nicht, stelle meine Musik zur Verfügung und verabschiede mich mit einer wortlosen Geste leise aus dem Zimmer.
Dies war der Nachtrag der Klangvisite 7/25 von letztem Donnerstag, den 23. August. Zuhause stelle ich fest, dass ich garkeine Fotos gemacht hatte. Ich glaube der Bericht ist auch ohne Bilder vor Ort glaubwürdig genug. Morgen geht es weiter.
© Astrid Marion Grünling, Klangvisite mit Harfe
www.klangvisite.de