Es geht um eine Reise zu Fuß. Im Winter. Durch Deutschland. Knapp 1000 Kilometer werde ich zurücklegen, von Slubice in Polen nach Venlo in den Niederlanden. Dabei möchte ich ein sehr persönliches Wanderbuch schreiben, in dem es um den demografischen Wandel geht. In den vergangenen Jahren war oft zu hören, dass die deutsche Provinz an Bevölkerung verliert und überaltert. Ich glaube, dass wir derzeit an einem Wendepunkt stehen. Das Leben in den Städten wird immer teurer. Und gleichzeitig haben viele Kommunen endlich angefangen, dem demografischen Trend entgegenzusteuern. Aber neben den Fakten ist da noch so ein Gefühl: Die deutsche Provinz war stets besser als ihr Ruf. Lebendinger, ideenreicher. Ich persönlich kann mir ein Deutschland ohne das, was in all den kleinen und mittleren Städten passiert, nicht vorstellen.
Das hat auch mit meiner Geschichte zu tun. Und davon handelt diese Reise:
Als ich jung war, wollte ich unbedingt weg aus Frankenberg. Heute freue ich mich über jeden, der dageblieben ist.
Meine kleine Heimatstadt in Nordhessen hat weder Showmaster noch Olympiasieger hervorgebracht. Es ist eine Stadt, die 45 Fahrminuten von der nächsten Autobahn entfernt liegt, für nichts auf der Welt bekannt ist und in der jeder große Trend mit mindestens einem Jahr Verspätung imitiert wird. Nach dem Abitur packte ich mein Auto bis unters Dach voll und fuhr ab Richtung Süden.
Ich habe in München studiert, mir von Oberbayern aus einen Überblick verschafft. Über Deutschland. Ich habe einiges gelernt. Zum Beispiel, dass 75 Prozent aller deutschen Kinder in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen sind wie ich, nämlich außerhalb der etwa 100 deutschen Großstädte. Dass der deutsche Mittelstand, der über 60 Prozent der Arbeitsplätze in diesem Land stellt, mehrheitlich in der Provinz zuhause ist. Dass all die beeindruckenden Zahlen von der deutschen Exportweltmeisterschaft niemals möglich wären, wenn es nicht die vielen Menschen im ländlichen Deutschland gäbe, die immer wieder schrullige und geniale Ideen haben, auf die niemand in Berlin, Hamburg oder Köln kommt. Das Telefon ist nicht in München erfunden worden, sondern im südhessischen Friedrichsdorf. Das Kugellager in Schweinfurt. Und der Erfinder des Computers, Konrad Zuse, hat seine ersten wissenschaftlichen Gehversuche in Hoyerswerda gemacht – die deutsche Stadt, die heute am stärksten vom demografischen Wandel betroffen ist. Ich merkte, dass ich jahrelang die Mittelmäßigkeit meiner Heimat beklagt hatte. Und dabei das Besondere übersehen hatte: Der Unternehmer aus der Nachbarstraße, der mit einer Fabrik für industrielle Waffeleisen Weltmarktführer geworden ist. Ich erinnerte mich an meinen alten Musiklehrer, der mit viel Idealismus Musiktalente ausgebildet und ein Orchester an unserer Schule aufgebaut hat. Spätestens während eines Auslandaufenthaltes in Frankreich merkte ich, wie außergewöhnlich es ist, in einem Land zu leben, das von innen heraus wächst – und nicht aus einer einzigen Metropole heraus seine gesamte Bedeutung schöpft. Ich knüpfte Freundschaften mit jungen Franzosen, die es unbedingt nach Paris schaffen mussten, um Erfolg im Beruf zu haben. Eine starke Provinz bedeutet Freiheit. Auch in der Lebensgestaltung.
Der demografische Wandel bedroht diese Freiheit. Deutschland wächst nicht mehr von innen heraus, sondern schrumpft. Demografen zeichnen drastische Zukunftsszenarien, im Jahr 2050 soll der Altersdurchschnitt in den meisten Landkreisen außerhalb der so genannten Metropolregionen bei über 55 Jahren liegen – junge Familien wären dann die Ausnahme. Doch die Zukunft Deutschland lässt sich nicht ausrechnen, weil sich die dafür nötigen Parameter ständig verändern. Schon jetzt steigen die Mieten selbst in früher erschwinglichen Städten wie Berlin auf ein Niveau, dass sich selbst Akademiker nur noch schwer leisten können. Gleichzeitig entstehen auf dem Land Konzepte, um den Wegzug zu stoppen: Praxisorientierte Studiengänge an regional organisierten Fachhochschulen, Familienprogramme, die Herausbildung von Stadtprofilen. Und manchmal sind es auch engagierte Einzelpersonen, die einiges Bewegen.
Es soll ein Buch entstehen, das entgegen vieler anderer Beschreibungen nicht nur vom Niedergang handelt, sondern auch vom Besonderen im Kleinen. Denn wir können uns ein Deutschland ohne Provinz nicht leisten.
Meine Route (Planungsstand 12.2.13): Slubice - Frankfurt/Oder - Fürstenwalde - Erkner - Berlin - Potsdam - Beelitz - Wittenberg - Leipzig - Halle - Eisleben - Sangerhausen - Nordhausen - Duderstadt - Göttingen - Kassel - Fritzlar - Frankenberg - Willingen - Olsberg - Meschede - Schwerte - Hagen - Dortmund - Herne - Gelsenkirchen - Oberhausen - Duisburg - Moers - Venlo.
Mein Blog: https://deutschlandwanderung.wordpress.com/