Seid Menschen
Mit seinem Mural für Margot Friedländer schafft Luigi Toscano einen Ort der Erinnerungskultur. Es hält die Lehren des Holocaust wach und ruft uns auf, Menschlichkeit zu bewahren – als Auftrag an jede Generation.
Ein Kunstwerk kann mehr sein als Farbe an einer Wand – es kann Geschichte lebendig halten, zum Nachdenken anregen und Haltung zeigen. In diesem Blogeintrag begegnen wir Luigi Toscano, der mit seinem Mural an Margot Friedländer erinnert, einer Frau, deren Leben die Schrecken des Holocaust widerspiegelt. Wir sprechen über die Bedeutung von Erinnerungskultur heute, den Umgang junger Menschen mit der Geschichte und warum es gerade jetzt wichtig ist, Menschlichkeit aktiv zu leben und zu verteidigen.
Dienstagvormittag, der Laptop aufgeklappt, das Kamerabild noch ein wenig zu hell, die eigene Stimme ungewohnt nah im Kopfhörer. Gleich wird sich ein virtueller Raum öffnen, in dem wir Luigi Toscano kennenlernen. Meine Kollegin Paula und ich sind gespannt: Wer ist der Mann, der hinter dem „Mural“ von Margot Friedländer steht? Was zunächst nach einem Arbeitstermin klingt, nach Recherche und Gesprächsnotizen, verwandelt sich rasch in etwas anderes. Luigi erscheint auf dem Bildschirm, das sizilianische Licht im Rücken, und mit seiner freundlichen Begrüßung ist sofort eine Verbindung da – zwischen dem Künstler aus Baden-Württemberg, einer Communications Managerin aus dem Saarland und mir, einer Social-Media Managerin aus Rheinland-Pfalz. Luigi beginnt zu erzählen, ohne dass er darum gebeten werden muss. Er spricht offen, herzlich, voller Überzeugung – über seine Kunst, sein Engagement, sein Verdienstkreuz, das er erst angenommen, dann aus Protest gegen Faschismus wieder zurückgegeben hat. Und schließlich von Margot Friedländer. Als er von ihr erzählt, spüren Paula und ich, dass wir längst vergessen haben, dass dies eigentlich ein Arbeitstreffen sein sollte.
Mit Ehrfurcht beschreibt er eine Frau, die so viel erlebt hat, so viel mehr weiß – und deren vielleicht wichtigste Botschaft doch in einem einfachen Satz liegt: Sei Mensch.
Diese Botschaft bildet den Kern unserer neuen Kampagne „Mensch bleiben“, mit der wir als gemeinwohlorientierte Plattform Verantwortung übernehmen wollen. Denn es geht um mehr als Kunst – es geht darum, wie wir als Gesellschaft zusammenhalten, wie wir Erinnerungskultur lebendig halten und Demokratie stärken.
Ein Jahrhundertleben gegen das Schweigen
Margot Friedländer wurde 1921 als Margot Bendheim in Berlin geboren. Nach der Schule begann sie eine Lehre in einer Schneiderei, während ihre Familie vergeblich versuchte, in die USA auszuwandern. Stattdessen folgten Zwangsarbeit, die Trennung der Eltern und ein Leben in ständiger Bedrohung. Mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder Ralph lebte sie bis 1943 zusammen. In diesem Jahr planten sie die Flucht – doch Ralph wurde von der Gestapo verhaftet. Daraufhin stellte sich auch die Mutter den Behörden. Beide wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet. Der Tochter blieb eine Botschaft der Mutter, die sie tief verinnerlichte: „Versuche, dein Leben zu machen.“
Mit 21 Jahren tauchte Margot unter, lebte in der Illegalität, färbte sich die Haare, ließ sich ihre Nase operieren – alles, um nicht erkannt zu werden. Doch 1944 wurde sie am Kurfürstendamm in Berlin von Greifern aufgegriffen und nach Theresienstadt deportiert. Dort überlebte sie – als Einzige ihrer Familie. In Theresienstadt begegnete sie erneut Adolph Friedländer, den sie aus Berliner Zeiten kannte. 1946 heirateten die beiden und wanderten in die USA aus. Sechs Jahrzehnte lebte das Paar in New York. Erst nach dem Tod ihres Mannes kehrte Margot zurück – in das Land der Täter, in die Stadt ihrer Jugend.
„Hass ist mir fremd“, sagte sie, und doch widmete sie sich von da an mit unermüdlicher Energie der Erinnerung. Ihre Botschaft galt besonders der jungen Generation. In Schulen, Universitäten und bei Gedenkveranstaltungen sprach sie über ihr Leben – über Verfolgung, Verlust, Überleben. Sie wollte, dass Geschichte Gesichter bekommt und dass Erinnern Verantwortung bedeutet. Für ihren Einsatz wurde sie vielfach geehrt: Mit 96 Jahren ernannte die Stadt Berlin sie zur Ehrenbürgerin. 2023 gründete sie zudem ihre eigene Stiftung. Am 9. Mai 2025, genau 80 Jahre nach der Befreiung Deutschlands von der NS-Herrschaft, verstarb Margot Friedländer in ihrer Heimatstadt Berlin im Alter von 103 Jahren.
Ihr größter Wunsch für die Zukunft war stets, dass jungen Menschen, mit denen sie ihre Erfahrungen geteilt hatte, ihre Botschaft weitertragen:
Seid Menschen, respektiert einander – es gibt kein jüdisches, kein christliches, kein muslimisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. – Margot Friedländer
Nichtwissen ist keine Option
Und dennoch zeigt eine aktuelle Studie der Jewish Claims Conference (Index on Holocaust Knowledge and Awareness) vom 23. Januar 2025, dass das Wissen über den Holocaust unter jungen Erwachsenen in Deutschland keineswegs selbstverständlich ist: Zwölf Prozent geben an, noch nie davon gehört zu haben oder unsicher zu sein, ob sie davon gehört haben. Berlins Schulen begegnen diesem Nichtwissen mit vielfältigen Maßnahmen. Gedenkstättenfahrten, Gespräche mit Überlebenden und akribische Recherchen zu den Schicksalen deportierter und ermordeter Menschen gehören dazu. So erforscht etwa das Charlottenburger Schiller-Gymnasium seit drei Jahren das Leben seines ehemaligen Schülers Norbert Bernheim, der 1943 im Alter von 18 Jahren in Auschwitz ermordet wurde. Am 27. Januar 2025 enthüllte die Schule zu seinen Ehren eine Gedenktafel. Das Projekt „DNA of Democracy“ hier bei Startnext stärkt Erinnerung und Demokratie. Unterstütze auch dieses Projekt – für mehr Haltung und ein besseres Miteinander.
Nach dem Gespräch mit Luigi und der Recherche über Margot Friedländer bleibe ich noch lange am Fenster meiner Berliner Wohnung stehen. Muss an den Songtext von Trettmann (Stolpersteine), einem Rapper aus Chemnitz, denken:
In meiner Straße Stolpersteine
Vögel singen und ich weine
Hier könnt' jeder Name stehen
Irgendeiner, irgendeiner
Doch hier steht deiner
– Trettmann

Ab Herbst 2025 soll im Prenzlauer Berg ein Mural entstehen, ein Kunstwerk, das Margot Friedländer ehrt und ihre Botschaft mitten in den Alltag zerrt. Vielleicht werden die Menschen, die daran vorbeieilen, für einen Moment stocken, den Blick heften, sich fragen, wer sie war – und begreifen, dass Erinnerung kein verstaubtes Konzept ist, sondern unser tägliches Leben, unsere Stadt, unsere Straßen durchzieht. Dieses Mural ist mehr als ein Kunstwerk. Es ist ein Aufruf an uns alle, Haltung zu zeigen, nicht wegzuschauen und aktiv Verantwortung für unsere Gesellschaft zu übernehmen. Als Plattform sehen wir unsere Aufgabe darin, solchen Projekten Sichtbarkeit zu geben. Deshalb rufen wir auch alle Crowdies auf, das Projekt mit einer Spende zu unterstützen, um ein starkes Zeichen für Menschlichkeit zu setzen.
Ein Mural, ein Moment, ein Auftrag an uns alle
Was in mir nachhallt, ist, dass Luigi (Fotografie/Idee) und AKUT (Falk Lehmann/Malerei), die beiden Muralisten, mehr als nur eine finanzielle Entlohnung im Blick haben. Ihnen geht es darum, dass alle, die morgens hastig zur Arbeit eilen, kurz innehalten, Margot erblicken und sich mit Schaudern fragen, ob sie erneut einer Partei, einer Stimme, die Hass und Hetze sät, ihr Vertrauen schenken.
Um es in den Worten Trettmanns zu sagen:
Schlingen werden wieder geknüpft
Messer wieder gewetzt
Nein, nicht woanders
Hier und jetzt
Der Schoß noch fruchtbar
Aus dem das kroch
Fruchtbar noch
Aus dem das kroch
Als Plattform, die Demokratie stärkt, sind wir überzeugt: In ganz Deutschland – in jeder Stadt und in jedem noch so kleinen Dorf – braucht es lebendige Erinnerungsorte. Orte, an denen Menschen innehalten und zur Wachsamkeit ermahnt werden. Deshalb setzen wir uns für „Mensch bleiben“ ein. Um diese wichtigen Stimmen hörbar zu machen. Um gemeinsam Verantwortung zu tragen – mit allen, die sich für eine offene und demokratische Gesellschaft einsetzen. Startnext erinnert – mit den Worten Margot Friedländers:
Ich bin zurückgekommen, um mit euch zu sprechen, euch die Hand zu reichen – und euch zu bitten, dass ihr die Zeitzeugen sein werdet, die wir nicht mehr lange sein können. – Margot Friedländer
